Am liebsten sitze ich derzeit auf dem Fußboden, denn solange ich sonst nichts weiter aufrechthalten muss, reicht die Kraft noch für das Befolgen von Spielanweisungen der Kinder. Mein Körper fühlt sich an wie dahingerotzt, weil ich keine Zeit mehr für Sport habe und mich im Alltag zu wenig bewege. Wenn irgendwo noch eine Minute übrig ist, geht die in politische Arbeit. Das gibt mir die Bestätigung, dass ich trotz allem noch an eine bessere Zukunft glaube.
Denn das mit der Zukunft ist so eine Sache. Ich kann seit Monaten nicht mehr planen und lehne alle größeren Aufträge ab, die ohne Kita nur durch untragbaren Schlafverzicht zu bewältigen wären. Die Corona Edition der Motherhood Penalty haut gut rein, gerade bei Selbstständigen. Wer kleine Kinder hat, ist gearscht. Wer Mutter ist, ist gearschter. Wer selbstständige Mutter ist – ach, was soll’s.
"Geld gegen Gesundheit"-Deal
Mein einziges Privileg als Selbstständige ist es, dass ich mit niemandem außer mir selbst über die Reduktion meiner Arbeitszeit verhandeln muss. Ansonsten machen im Lockdown (fast) alle Eltern den gleichen „Geld gegen Gesundheit“-Deal. Früher oder später laufen alle auf dem Zahnfleisch, sind leicht reizbar, brüllen mehr rum, essen schlechter und schlafen weniger. Was natürlich alles nicht zur Verbesserung der Situation beiträgt, im Gegenteil. In einer Spirale geht es immer weiter abwärts und am Ende stehen nicht selten Gewalt, Erschöpfungsdepression, Trennungen.
Die Pandemie ist nicht in ein paar Wochen vorbei und wir können so nicht weitermachen. Lohnarbeit und Carearbeit parallel zu stemmen bringt uns um den Verstand. Unser Alltag ist schon so effizient organisiert, dass wir nichts mehr optimieren können. Wochenenden sind bereits seit Monaten abgeschafft. Und wenn ich mir die Dringlichkeit der diversen Aufgaben so ansehe, bleibt nur eine mögliche Schlussfolgerung, und die lautet: Die Lohnarbeit muss weg.
Wir können nicht weniger kochen, nicht weniger Windeln wechseln, nicht weniger trösten, nicht weniger spielen, nicht weniger duschen, nicht weniger einkaufen, nicht weniger waschen, nicht weniger essen, nicht weniger schlafen. Nichts davon ist verzichtbar. Diese Tätigkeiten sind systemrelevant und können nicht weiter heruntergefahren werden. Das einzige, was jetzt noch reduziert werden kann, ist die Lohnarbeit.
Ich streike jetzt.
Ich reduziere meine Lohnarbeit auf Null und ich tue das so laut ich kann, denn dies ist keine Kapitulation, sondern ein Streik. Ich weigere mich, weiterhin das Wohlergehen von vier Personen aufs Spiel zu setzen für ein kapitalistisches System, das gelinde gesagt beschissen funktioniert und sich null um Carearbeitende schert. Ich bestreike die Produktionsarbeit. Ab sofort. So lange, bis meine Kinder wieder regelmäßig in eine Kita gehen können.
Die Sorgearbeit wird auch Reproduktionsarbeit genannt, um sie von der bezahlten Produktionsarbeit zu unterscheiden. Aber diese Unterscheidung ist nur theoretisch.
Denn was Eltern tatsächlich machen ist die nächste Generation erwerbstätiger Menschen zu produzieren, die dann wieder andere Sachen (oder Menschen) produzieren kann. Ich leiste also bereits Produktionsarbeit, und zwar unbezahlt. Und da soll ich mich in dieser Krise mit einem weiteren Job in einen Burnout strampeln? Und komm mir ja keiner mit Rente, denn das Menschen-Produktionsarbeit nicht vernünftig abgesichert ist, ist ja Teil des Problems (1).
Um das gleich vorweg zu nehmen: Ich bekomme als Selbstständige kein ALG I. Ich habe selbst Rücklagen gebildet, die nun, nach 11 Monaten Pandemie, langsam aufgebraucht sind. Also nein, ich kann mir die Arbeitslosigkeit nicht „leisten“. Zwei oder drei Monate geht es noch, dann „wähle“ ich mit Hartz IV die einzige Alternative zu bezahlter Produktionsarbeit. Das ist ein lächerlicher Betrag, der mit Existenzminimum wohlwollend beschrieben ist. Aber ganz ehrlich, und ich meine das wirklich komplett ernst: das muss ich für mein psychisches und physisches Wohlergehen in Kauf nehmen.
Das Wichtigste ist, zu überleben
Überall in den sozialen Medien heißt es: „Du musst nichts schaffen während der Krise, das ist ein nie zuvor dagewesener Zustand, gräme dich nicht, wenn du keine neue Fremdsprache oder Stricken lernst, das Wichtigste ist, zu überleben.“ Dem stimme ich zu. Es reicht, wenn wir das hier überleben, und das nehme ich jetzt wortwörtlich.
Man kann mit Hartz IV überleben. Ich romantisiere Armut keineswegs und hoffe sehr, dass die Zeit damit kurz sein wird. Aber das Bestreiken der Produktionsarbeit gibt uns für den Moment die einzige Chance, körperlich und geistig einigermaßen gesund zu bleiben.
Ein schlechtes Gewissen? Habe ich nicht. Wieso auch? Wir produzieren hier zwei tolle neue Bürger*innen für einen unfassbaren Spottpreis, und selbst wenn unsere Kinder keine high achiever werden oder auswandern, sind sie ein Teil dieser Gesellschaft und es wert, wohlbehalten aufzuwachsen. Oder wie war das mit dieser Menschenwürde? Ach ja, nicht skalierbar, gell? Ich würde ja eher andersrum rechnen und danach gucken, welche Kosten der Solidargemeinschaft erspart bleiben, wenn mein Mann und ich nicht demnächst wegen Burnout ausfallen. Was da alles an Therapien und Medikamentenkosten nicht anfällt und zum Beispiel für digitale Präventionsprogramme verwendet werden kann. Über Jahre! Man denke auch an die Gefahr vollständiger Berufsunfähigkeit. Das Risiko ist, gerade bei psychischen Erkrankungen, hoch. Stattdessen tue ich hier also das Verantwortliche und schütze meine langfristige Arbeitskraft, um nach dem Ende der Krise wieder Steuern zahlen zu können. Das kostet mich übrigens nicht nur unmittelbar bares Geld. Denn wenn nichts reinkommt, kann ich auch nicht vorsorgen – oder zahlt das Jobcenter meine private Altersvorsorge weiter? Nein. (Nein, es ist kein Hartz4-sicherer Riester-Vertrag.) Entsprechend wird mein Altersarmutrisiko noch größer als es für mich als Frau mit Kindern ohnehin schon ist. What a time to be alive!
Ich mache das hier auch nicht, weil ich faul bin oder keine Lust habe zu arbeiten. Ich mag meine Arbeit sehr gern und es fällt mir wirklich schwer, jetzt alles abzusagen. Seit Wochen überlege ich, ob so ein radikaler Streik wirklich notwendig ist (2). Aber ich habe keine Kapazitäten mehr für kurzfristige Lösungen und Durchhalten. Und wenn ich mir die Corona-Lage so anschaue, dann erscheint es mir eigentlich für uns alle sinnvoll, darüber nachzudenken, wie wir unser Leben mittel- und langfristig gestalten wollen, wenn das Virus nicht weggeht, sondern weiter mutiert und wir in Zukunft in einer anderen Welt leben.
Abschied von der Welt vor der Krise
Mein Streik ist damit auch ein Abschied von der Welt vor der Krise. So wie es war, wird es nicht mehr werden. Wenn das Infektionsgeschehen einigermaßen eingedämmt ist, werden wir noch viele, viele Jahre über die Pandemie sprechen. Über das, was schieflief, was besser gemacht werden muss, wer am meisten litt und wer weiterhin solidarischer Unterstützung bedarf. Wir werden über Fallpauschalen und Notfallpläne sprechen, wir werden die Situation der Schulen und Kitas genauer ansehen und wir werden immer mehr Geschichten hören und lesen von Menschen, die langfristig unter Corona leiden, ob als Krankheitsfolgen oder finanziell. Wir müssen die europäische Zusammenarbeit aufarbeiten und die rassistischen Ressentiments, die Spaltung der Gesellschaft und die Rolle von Politik und Medien.
Die Pandemie ist eine Zäsur. Ich hasse Pathos, aber das glaube ich wirklich. Vor einigen Monaten habe ich gesagt, dass sich ein Teil von mir wünschte, die Pandemie dauere noch an, damit der Druck steige und sich tatsächlich mal etwas verändere. Ich hoffe, dass wir an diesem Punkt angekommen sind. Die zweite Welle und die Aussicht auf die Mutationen und damit weitere Wellen führen dazu, dass mehr passieren wird und dass die Kategorien, in denen wir gewohnt waren zu denken, notwendigerweise erweitert werden müssen. Dazu gehört, first and foremost, endlich eine bessere Wertschätzung privater und beruflicher Sorgearbeit. Denn ohne die läuft einfach gar nichts. Begreift das da oben wirklich niemand?!
Deswegen streike ich jetzt (3). Für Carearbeit und deren Anerkennung.
Change my mind, "Soziale Marktwirtschaft".
PS: Ja, nicht jeder*r kann meinem Beispiel folgen. Das muss auch nicht jeder*r tun. Gerade berufliche Care-Arbeit zu bestreiken geht oft zulasten anderer Care-Arbeitender. Aber privilegierte Lohnarbeitende aus anderen Sektoren und Branchen können das durchaus, und das sind auch diejenigen, die ich zum Mitmachen auffordere. Aus dem einfachen Grund, dass wir alle im Laufe unseres Lebens früher oder später auf Sorgearbeit angewiesen sind und es deshalb für ALLE Menschen uneingeschränkt wünschenswert ist, wenn diese zu fairen Bedingungen bereitgestellt wird.
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(1) Für weitere Informationen zu der Forderung nach besserer Anerkennung und Wertschätzung von Sorge- oder Carearbeit, lest bitte das Manifest der Equal-Care-Day-Initiative. Auf Instagram @equalcareday werden die Forderungen gerade erläutert. Am 01.03.2021 ist Equal Care Day!
(2) In ihrer letzten Kolumne im SZ-Magazin fragte Teresa Bücker, ob es radikal sei, wenn Eltern jetzt streikten. Sie kam zu dem Schluss, dass Streik keine gute Option sei. Ihre Überlegungen findet ihr hier.
(3) Du willst auch? Gestern erschien auf dem Blog der Equal-Care-Day-Initiative ein Artikel mit dem Titel "Care-Streik jetzt?!", der beleuchtet, unter welchen Umständen es Arbeitnehmer*innen möglich ist oder sein sollte, ihre berufliche Arbeit zu bestreiken, um auf Missstände im Care-Bereich hinzuweisen. Diesen Text findet ihr hier.
Noch mehr lesen:
Astra Zenecas Impfstoff wirkt nicht gegen B1351:
https://www.nytimes.com/live/2021/02/07/world/covid-19-coronavirus
Zukunftsfähiges Versorgen – oder vom Privileg, sich nicht um Hausarbeit kümmern zu müssen
How Society Has Turned Its Back on Mothers:
https://www.nytimes.com/2021/02/04/parenting/working-mom-burnout-coronavirus.html
Schlechte Nachrichten für Mütter:
https://taz.de/Deutschlands-Arbeitsmarkt/!5746629&s=mutterschaft/
Ich-Optimierung auf Kosten der Gesellschaft:
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